Tradition und Geschichte
Jährlich präsentieren die Wiener Philharmoniker zum Jahreswechsel ein heiteres und zugleich besinnliches Programm aus dem reichen Repertoire der Strauß-Dynastie und deren Zeitgenossen. Das Konzert wird mittlerweile in über 90 Länder weltweit übertragen.
Langer Weg der Annäherung
Die internationale Popularität des Neujahrskonzerts erweckt den Eindruck, als ginge die Strauß-Rezeption des Ensembles bis zu Johann Strauß Vater und somit nahtlos bis zum Beginn der Geschichte des Orchesters zurück. Tatsächlich ignorierten die Philharmoniker jedoch lange diese „wienerischste“ Musik, welche je geschrieben wurde: Offensichtlich schien ihnen der soziale Aufstieg, den sie mittels ihrer Philharmonischen Konzerte erfuhren, durch Beziehungen zur „Unterhaltungsmusik“ gefährdet. Diese Einstellung gegenüber der Strauß-Dynastie änderte sich nur allmählich. Ausschlaggebend für das Umdenken waren neben der Tatsache, dass sich die Mitglieder der einzigartigen Komponistenfamilie der höchsten Anerkennung großer Komponisten wie Franz Liszt, Richard Wagner und Johannes Brahms erfreuten, mehrere direkte Begegnungen mit Johann Strauß Sohn. Sie gaben dem Orchester Gelegenheit, die Bedeutung dieser Musik und die ganz Europa bezwingende Persönlichkeit ihres Schöpfers kennen zu lernen.
Johann Strauß und die Wiener Philharmoniker
Das erste Zusammentreffen brachte gleich eine Uraufführung: Für den im Großen Musikvereinssaal abgehaltenen Opernball am 22. April 1873 komponierte Strauß den Walzer „Wiener Blut“ und dirigierte ihn „stilecht“ mit der Geige in der Hand. Am 4. November 1873 brachte Strauß Werke seines Vaters und Josef Lanners sowie den „Donauwalzer“ im Rahmen eines von der chinesischen Weltausstellungs-Kommission veranstalteten Galakonzerts zur Aufführung. Die nächste Begegnung gab es anlässlich einer Soirée in der Hofoper (11. Dezember 1877), bei der Strauß die Uraufführung seiner „Reminiscenzen aus Alt- und Neu-Wien“ dirigierte, eines leider verschollenen Potpourris von Themen aus eigenen bzw. aus Kompositionen seines Vaters. Am 14. Oktober 1894 nahm das Orchester am Festkonzert anlässlich des fünfzigjährigen Berufsjubiläums des Meisters teil, und Strauß bedankte sich mit der Überreichung einer Erinnerungsmedaille und einem Telegramm: „Einstweilen schriftlich heißesten Dank den großen Künstlern den berühmten Philharmonikern sowohl für Ihre Meisterleistung, als auch für die Kundgebung ihrer Sympathie womit Sie die größte Freude bereitet haben Johann Strauss“. Die nächste Begegnung sollte tragische Folgen haben: Am 22. Mai 1899 hatte der Komponist anlässlich einer Aufführung der „Fledermaus“ zum ersten und einzigen Mal in der Hofoper dirigiert. Dabei zog er sich eine Erkältung zu, die in der Folge zu jener Lungenentzündung führte, der er am 3. Juni 1899 erlag.
Das Johann-Strauß-Denkmal in Wien
Auch nach dem Tod des „Walzerkönigs“ avancierten die Philharmoniker nicht sofort zu seinen überzeugten Interpreten. Eine Wende zeichnete sich erst 1921 ab: Anlässlich der Enthüllung des Johann-Strauß-Denkmals im Wiener Stadtpark dirigierte Arthur Nikisch (1855-1922) die Walzer „Künstlerleben“, „An der schönen blauen Donau“ sowie „Wein, Weib und Gesang“, und das Beispiel des weltberühmten Künstlers machte offenbar Schule. Den endgültigen Durchbruch brachten die Feiern zum 100. Geburtstag des Meisters (25. Oktober 1925): Felix von Weingartner dirigierte den „Donauwalzer“ in den Philharmonischen Abonnementkonzerten vom 17./18. Oktober und leitete am 25. Oktober ein ausschließlich aus Strauß'schen Werken bestehendes Konzert.
Clemens Krauss
Die eigentliche Strauß-Tradition der Wiener Philharmoniker begründete aber jener Künstler, der bis zum heutigen Tag als vielleicht bedeutendster Apologet dieser Musik gilt: Clemens Krauss (1893-1954). Von 1929 bis 1933 dirigierte er bei den Salzburger Festspielen alljährlich ein Strauß-Programm und nahm damit das Neujahrskonzert vorweg.
Das erste Neujahrskonzert
Der Ursprung dieses Konzerts fällt in den düstersten Abschnitt der Geschichte Österreichs und des Orchesters. Inmitten von Barbarei, Diktatur und Krieg, in einer Phase ständigen Bangens um das Leben einzelner Mitglieder oder deren Angehöriger setzten die Philharmoniker am 31. Dezember 1939 einen ambivalenten Akzent: Der Reinertrag eines der Strauß-Dynastie gewidmeten außerordentlichen Konzerts unter der Leitung von Clemens Krauss wurde zur Gänze der nationalsozialistischen Spendenaktion „Kriegswinterhilfswerk“ gewidmet. 1941 wurde die Philharmonische Akademie „Johann Strauss-Konzert“ am 1. Jänner veranstaltet und inmitten des Krieges von vielen Menschen als „echt wienerisches Freudenfest“ verstanden, aber auch von der nationalsozialistischen Propaganda im „Großdeutschen Rundfunk“ vereinnahmt. Clemens Krauss betreute die neugeschaffene Institution bis Kriegsende. In den Jahren 1946 und 1947 stand Josef Krips (1902-1974) am Pult, 1948 kehrte Krauss nach Aufhebung seines zweijährigen Dirigierverbotes durch die Alliierten zurück und leitete bis 1954 sieben weitere Neujahrskonzerte.
25 Neujahrskonzerte mit Willi Boskovsky
Der unerwartete Tod von Krauss am 16. Mai 1954 stellte die Philharmoniker vor große Probleme hinsichtlich eines Nachfolgers; es bedurfte mehrerer Orchester-versammlungen, ehe man sich knapp vor dem 1. Jänner 1955 dafür entschied, Konzertmeister Willi Boskovsky (1909-1991) die künstlerische Leitung anzuvertrauen. Die Wahl sollte sich als Glücksgriff erweisen: Fünfundzwanzig Mal, von 1955 bis 1979, dirigierte Boskovsky dieses Konzert und prägte es so nachhaltig, dass sein Rücktritt das Ende einer Ära bedeutete.
Ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Neujahrskonzerts
Als Boskovsky im Oktober 1979 aus gesundheitlichen Gründen für das Neujahrskonzert 1980 absagen musste, trafen die Philharmoniker wiederum eine grundsätzliche Entscheidung: Mit Lorin Maazel wurde ein international arrivierter Dirigent gewählt, der das Konzert bis 1986 leitete.
Danach entschloss man sich zu einem alljährlichen Wechsel des künstlerischen Leiters. Den Anfang machte 1987 Herbert von Karajan mit einem unvergesslichen Konzert, ihm folgten Claudio Abbado (1988 und 1991), Carlos Kleiber (1989 und 1992), Zubin Mehta (1990, 1995, 1998, 2007, 2015), Riccardo Muti (1993, 1997, 2000, 2004, 2018, 2021), Lorin Maazel (1994, 1996, 1999, 2005), Nikolaus Harnoncourt (2001, 2003), Seiji Ozawa (2002), Mariss Jansons (2006, 2012, 2016), Georges Prêtre (2008, 2010), Daniel Barenboim (2009, 2014, 2022), Franz Welser-Möst (2011, 2013), Gustavo Dudamel (2017), Christian Thielemann (2019) und Andris Nelsons (2020).