4. Nationalsozialismus
Die Wiener Philharmoniker in der NS-Zeit (1938 bis 1945)
1938 griff auf brutalste Weise die Politik ins philharmonische Geschehen ein: Die Nationalsozialisten entließen fristlos alle jüdischen Künstler aus dem Dienst der Staatsoper und lösten den Verein Wiener Philharmoniker auf. Lediglich die Intervention Wilhelm Furtwänglers und anderer Personen bewirkte die Annullierung des Auflösungsbescheides und rettete bis auf zwei die „Halbjuden“ und „Versippten“ vor Entlassung aus dem Staatsopernorchester. Fünf Orchester-Kollegen verstarben trotz Intervention des neuen NS-Vorstandes, der sie vor der Deportation retten wollte, an den Folgen der KZ-Haft oder wurden ermordet. Weitere zwei Musiker kamen in Wien als direkte Folge von versuchter Deportation oder Verfolgung ums Leben.
Insgesamt neun Kollegen wurden ins Exil vertrieben. Die 11 verbliebenen Orchestermitglieder, die mit Jüdinnen verheiratet waren oder als „Halbjuden“ stigmatisiert wurden, lebten unter der ständigen Bedrohung des Widerrufs dieser „Sondergenehmigung“.
Doch auch im Orchester selbst gab es bereits eine im Rahmen der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation Staatsoper (NSBO) sehr aktive „illegale“ Zelle, sodass bereits vor 1938 während des Verbots der NSDAP der Anteil der NSDAP-Mitglieder rund 20% betrug. 1942 waren 60 von 123 aktiven Musikern Mitglieder der NSDAP geworden.
Zum Projekt „Wiener Philharmoniker - Geschichtlicher Überblick zur NS-Zeit“
Ab April 2011 wurde von Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb neues Material zu den NS-Opfern und den Exilanten der Wiener Philharmoniker zusammengetragen, das auf der Website der Wiener Philharmoniker veröffentlicht wird. Es handelt sich dabei um Primärquellen zur Biografie der zwei ermordeten Philharmoniker, der aufgrund von Verfolgung bzw. KZ-Haft verstorbenen fünf Musiker sowie ihrer neun ins Exil vertriebenen Kollegen. Auch die Geschichte der elf verbliebenen Orchestermitglieder, die mit Jüdinnen verheiratet waren oder als „Halbjuden“ stigmatisiert wurden, sollte vertieft und analysiert werden.
Im Jänner 2013 wurde auf Initiative des damaligen Vorstands der Wiener Philharmoniker, Prof. Dr. Clemens Hellsberg, eine unabhängige Historikergruppe (Leitung: Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, Mag.a Bernadette Mayrhofer, Dr. Fritz Trümpi) beauftragt, ihre Forschungsergebnisse und Publikationen für die Website des Orchesters aufzubereiten – unter Verwendung der genannten neu gefundenen Unterlagen sowie von allen Archivalien des Archivs der Wiener Philharmoniker.
Frau Mag.a Mayrhofer hat zu den im Nationalsozialismus vertriebenen und aufgrund der Verfolgung ums Leben gekommenen oder ermordeten Mitglieder des Staatsopernorchesters und des Vereins Wiener Philharmoniker biografische Porträts verfasst. Soweit die Quellenlage es (bisher) zuließ, wurden viele unterschiedliche biografische Facetten in die Porträts miteinbezogen, um der Diversität und Komplexität der Lebensläufe der vertriebenen und ermordeten Philharmoniker gerecht zu werden. Auch die Traumata und Leistungen der neun Exilanten werden von ihr in den Porträts thematisiert.
Dr. Fritz Trümpi liefert einen Überblick über die Politisierung des Orchesters ab dem Ersten Weltkrieg und analysiert, wie sich diese in der Ersten Republik und im Austrofaschismus weiterentwickelte. Besonders ausführlich geht er auf die Wechselwirkungen zwischen dem NS-Regime und den zwei neuen nationalsozialistischen Orchesterführern ein. Anhand neuer Quellen präsentiert er eine Studie zur Vereinsgeschichte des Orchesters. Außerdem unternimmt er eine politische Deutung des philharmonischen Repertoires und untersucht die Weise der medialen Präsenz des Orchesters im Nationalsozialismus.
Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb analysiert anhand neuer Quellenmaterialien die Folgen der Ausgrenzung und des Ausschlusses der zahlreichen jüdischen Sponsoren und Publikumsgruppen. Ein zweiter Bereich ist den zahlreichen Ehrungen von NS-Potentaten - darunter u.a. Arthur Seyss-Inquart und Baldur von Schirach - gewidmet. Überdies wird die Entstehungsgeschichte des „Neujahrskonzerts“ gestreift. Auch ein Kapitel über Ziele und Umsetzung der Entnazifizierung vertieft die Frage nach den personellen und inhaltlichen Kontinuitäten - die in beiden Fällen über die NS-Zeit hinaus zurückreichen. Insgesamt waren von 123 Mitgliedern des Vereins Wiener Philharmoniker 60 NSDAP-Mitglieder oder Parteianwärter (davon zwei SS-Mitglieder). Nach 1945 wurden vier Musiker sofort gekündigt und sechs pensioniert, zwei sind aber dann später wieder in das Staatsopernorchester und den Verein Wiener Philharmoniker aufgenommen worden.
Politisierungsprozess der Wiener Philharmoniker vom Ersten Weltkrieg bis 1945
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Politisierungsschub durch den Ersten Weltkrieg
Während des Ersten Weltkriegs sah sich das Orchester erstmals diversen politisch motivierten Vereinnahmungsmaßnahmen gegenüber, die es teilweise abzuwehren versuchte, teilweise aber auch unterstützte und beförderte.
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Erste Republik und Austrofaschismus: Ausbau der Bezüge zur „Musikstadt Wien“ und der internen autoritären Strukturen
Die Tätigkeitsbereiche des Orchesters wiesen zunehmend regional- und staatspolitische Schnittstellen auf. Der Ausbau seiner „Musikstadt Wien“-Bezüge lieferte dem Orchester eine ideale Operationsbasis dazu.
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Ein Verein nach nationalsozialistischen Grundsätzen
Der Verein blieb weiterhin bestehen, hatte aber einschneidende Satzungsänderungen vorzunehmen: Wichtige Personalentscheide unterlagen nun der Zustimmung zunächst des Reichspropaganda-ministeriums und später dem Wiener Reichsstatthalter.
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'Musikstadt Wien' statt Deutsches Reich - die Medienpräsenz der Wiener Philharmoniker im Nationalsozialismus
Die Wiener Philharmoniker verfügten seit jeher über eine vielfältige Medienpräsenz. Auch für die Zeit des Nationalsozialismus war sie anhaltend hoch.
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Die 'wienerische Note' als Merkmal des politisierten Musikrepertoires
Auf das Repertoire bezogen war die Konzertpraxis der Wiener Philharmoniker im Nationalsozialismus also von einer hohen Kontinuität geprägt – allerdings nur soweit es die Abonnementkonzerte betraf.
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Vom Johann-Strauß-Konzert 1939 zum Neujahrskonzert 1946
[...] die Tradition von über Rundfunk (und später Fernsehen) ausgestrahlten Konzerten mit Werken von Johann Strauß anlässlich des Jahreswechsels begann in der NS-Zeit [...]
Vertreibung und Ermordung von Wiener Philharmonikern nach 1938
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Vertreibung und Ermordung von Wiener Philharmonikern nach 1938
Aus dem Philharmonischen Verband bzw. aus dem Orchester der Staatsoper wurden 1938 dreizehn aktive Musiker vertrieben. Drei weitere Philharmoniker, die bereits in der Pension waren, fielen dem Holocaust zum Opfer.
Ermordung nach Deportation
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Aufgrund der Verfolgung ums Leben gekommene oder ermordete Wiener Philharmoniker
Insgesamt fünf Philharmoniker wurden im Zuge der rassistischen Säuberungen ermordet. Ein Philharmoniker starb infolge der Delogierung aus seiner Wohnung. Ein weiterer verstarb noch vor der drohenden Deportation in Wien.
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Moriz Glattauer (Violine I)
Am 14. Juli 1942 wurde der bereits pensionierte Wiener Philharmoniker Moriz Glattauer, I. Violinist im Orchester, gemeinsam mit seiner Frau Anna (geb. Schidlof) nach Theresienstadt deportiert.
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Viktor Robitsek (Violine II)
Nach 35 Dienstjahren an der Staatsoper und im Orchester der Wiener Philharmoniker wurde der Violinist Viktor Robitsek am 23. März 1938 schriftlich von der Direktion der Staatsoper über seine Zwangsbeurlaubung in Kenntnis gesetzt.
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Max Starkmann (Violine I, Viola)
Max und Elsa Starkmann wurden am 5. Oktober 1942 gezwungen, unter menschenunwürdigsten Bedingungen in Wien in einen Zug zu steigen, um mit einem Massentransport nach Maly Trostinec (etwa 18 km von Minsk entfernt) verschleppt zu werden.
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Julius Stwertka (Konzertmeister, Violine)
Julius Stwertka wurde als Konzertmeister von Gustav Mahler von Hamburg abgeworben und in dieser Position im Wiener Staatsopernorchester und bei den WPh (1902 – 1936) engagiert.
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Armin Tyroler (Oboe II)
„(ich) habe mich stets bemüht, den Daseinskampf meiner vom Glück weniger begünstigten Kollegen zu erleichtern, zu verschönern. Das ist alles!“
In Wien „ums Leben gekommen“
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Paul Fischer (Violine I, Stimmführer)
Paul Fischer spielte 39 Jahre lang 1. Violine bei den WPh und im Staatsopernorchester. Zusätzlich war er langjähriges Mitglied des international renommierten Rosé-Quartetts.
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Anton Weiss (Violine I, Stimmführer)
Der Wiener Philharmoniker Anton Weiss fiel der brutalen NS-Vertreibungspolitik zum Opfer, und zwar noch bevor die Nationalsozialisten mit den systematischen Massenvernichtungen der jüdischen Bevölkerung begannen.
Wiener Philharmoniker im Exil
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Wiener Philharmoniker im Exil
Neun Philharmoniker konnten sich ins Exil retten.
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Hugo Burghauser (Fagott I, Vorstand)
[...] und von ihren alten Schülern niemand anderer als Hugo Burghauser, der arme, der so ganz verloren auf dem Asphalt von Manhatten ist [...]
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Friedrich Siegfried Buxbaum (Solocellist)
Friedrich Buxbaum wurde in seiner exponierten Position als Solist und erster Cellist der WPh unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland aus dem Orchesterverband vertrieben.
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Daniel Falk (Violine II)
„Seitdem ich Wien verließ, liegen hinter mir Jahre der Wanderung, das tragische Schicksal, meine ganze Familie, Mutter, Brüder wie auch sämtliche Angehörige in den Konzentrationslagern und Gaskammern verloren zu haben, wie auch Jahre, ein neues, hochinteressantes Land kennengelernt zu haben.“
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Leopold Othmar Föderl (Violine II)
Im Sommer 1948 kam dann die große Ernüchterung: Der Operndirektor Franz Salmhofer wies den vertriebenen Musiker zurück, während ehemalige Nazis in der Oper ihre Karriere fortsetzen durften.
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Josef Geringer (Violine I)
Josef Geringer zählte zu den in künstlerischer Hinsicht eindrucksvollsten Musikern der Wiener Philharmoniker.
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Ricardo Odnoposoff (Violine I, Konzertmeister)
„[...] he established himself as one of the outstanding violinists of the day. The Argentine artist, who came here virtually unknown to the general public, took his audience by storm by the virtuosity, power and fire of his performance. [...]“ New York Times.
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Arnold Rosé (Konzertmeister, Violine I, Viola-Solist)
„Wie Sie richtig vermuten, bin ich nun nach 57 Jahren Oper, 56 Jahren Quartett und 44 Jahren Hofmusikkapelle in den Ruhestand versunken, ohne Sang und Klang“
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Berthold Salander (Violine II)
Durch die gewaltsame Vertreibung aus dem Orchester brach für Berthold Salander eine Welt zusammen. Mit 51 Jahren wurde er abrupt aus seinem gewohnten, sehr erfolgreichen Berufsleben exkludiert.
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Ludwig Wittels (Violine I)
Wittels konnte sich zwar physisch retten, aber seelisch war er durch die Erfahrungen der Verfolgung und der Ermordung seiner Mutter schwer beschädigt: „Er sprach immer wieder davon, es frass an ihm innerlich all diese Jahre. Es ging mit ihm schlafen u. stand mit ihm auf.“
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Drohende Vertreibung der in der rassistischen NS-Diktion als „jüdisch Versippte“, „Mischlinge“ und „Ausländer“ ohne „Ariernachweis“ bezeichneten Wiener Philharmoniker
Gottfried Freiberg, Josef Hadraba, Theodor Hess, Rudolf Jettel, Richard Krotschak, Karl Maurer, Ernst Moravec, Otto Rieger, Arthur Schurig, Erich Weis, Otto Fieck
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Das „gestrichene“ Abonnement-Publikum (Gründer, Unterstützende und Beiträger)
Im Zuge der Recherchen mit der Archivarin der Wiener Philharmoniker wurde in einem als Notenarchiv gewidmeten Kellerdepot in der Wiener Staatsoper ein handgeschriebenes Kontoregister vom Autor dieses Beitrags gefunden.
Anmerkungen zu „Nazifizierung“ und „Entnazifizierung“
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Von der Betriebszelle Staatsoper zur Vereinsführung
Der Kern der NSDAP-Sympathisanten im Orchester der Wiener Philharmoniker, hat sich bereits 1931/32 im Rahmen der NSBO – der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation Staatsoper – organisiert.
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Ehrungen und Auszeichnungen (Ehrenmitglieder, Ehrenring, Nicolai-Medaille und die „gelbe“ Liste)
In Vorbereitung des Hundertjährigen Jubiläums wurde auch eine Zusammenstellung der Träger von Ehrenringen angefertigt. Wann genau der erste Ring verliehen wurde, kann derzeit nicht rekonstruiert werden.
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Entnazifizierung und der lange Schatten der Vergangenheit in den 1950er/1960er Jahren
Das markanteste Beispiel für den unüberwindbaren Prioritätenkonflikt bei der kulturellen Entnazifizierung, nämlich die Forderung nach künstlerischen Leistungen bei gleichzeitiger Eliminierung nationalsozialistischen Gedankengutes durch rigorose Personalsäuberung, stellte die politische Einordnung eines kollektiven Klangkörpers wie jenen der Wiener Philharmoniker dar.
Nachkriegszeit
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Ambivalente Loyalitäten: Beziehungsnetzwerke der Wiener Philharmoniker zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit
Dieser Aufsatz beleuchtet Beziehungsnetzwerke, Interessenverflechtungen, kulturelle und politische Positionen und Projekte der Wiener Philharmoniker im Kontext der Wiener Kulturpolitik zwischen 1938 und 1945.
Gegenwart
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Historisches Archiv - Bestand
Die umfangreiche Programmsammlung und eine Konzertdatenbank bilden das Herz des Historischen Archivs.